Rosenkranzfest 1938 Sternstunde des Widerstands
von Hans Werner Scheidl aus der Zeitung „Die Presse“ vom 5.10.2013
[...] Am 15. September 1938 saßen etwa 20 junge Burschen beim damaligen Domkaplan Martin Stur im Churhaus auf dem Stephansplatz: Sollte man es trotz der NS-Repressalien wagen, auch heuer wieder zur traditionellen Abendandacht der Wiener Jugend anlässlich des Rosenkranzfestes (7. Oktober) aufzurufen? Wolfgang Müller-Hartburg – damals noch nicht einmal 15 Jahre alt – war dabei. In seinen Erinnerungen, die Thomas Chorherr in das Buch „1938 – Anatomie eines Jahres“ (Ueberreuter) aufgenommen hat, schildert er den Beschluss der Jugendlichen: „Das machen wir auf jeden Fall! Und wenn auch nur hundert oder zweihundert kommen, aber wir machen’s!“
Aber wie? Um die Gestapo auszutricksen, gab es nur Mundpropaganda. Jeder Bursche übernahm zehn bis zwölf Pfarren, und in den Jugendseelsorgestunden wurde das Geheimnis weitergegeben. Auch Erwin Ringel war dabei: „Wir haben mit 2.000, 3.000 Leuten gerechnet, da haben wir schon alle Pfarren zusammengekratzt.“ Das Codewort lautete: „Freitag, 7.Oktober, 19.30 im Dom.“ Viel erhoffte man sich nicht, dementsprechend gering war die Zahl der aufgelegten Gebetstexte: 300. Eine Ansprache Kardinal Theodor Innitzers, des Wiener Erzbischofs, sah man nicht vor.
Auflösen aller Jugendorganisationen
Hitler war nun gerade sechs Monate im Land. Die Auflösung aller Jugendorganisationen, die in Deutschland Jahre gedauert hatte, war in der „Ostmark“ eine Sache von Tagen, bestenfalls von Wochen. Die (deutschnationalen) Turnvereine mussten ebenso dran glauben wie die katholischen Vereine, Verbände und Privatschulen, wie etwa das Schottengymnasium. Katholische Jugendarbeit war nur noch in Form „rein religiöser Betätigung“ und örtlich beschränkt auf den kirchlichen Raum gestattet. Aber die Nationalsozialisten täuschten sich: Gewitzt durch das, was in Deutschland geschehen war, blühte in Wien im Herbst 1938 bereits eine gut organisierte Pfarrjugend. In Sakristeien und Klöstern wurden Jugendseelsorgestunden abgehalten, Ministrantengruppen aufgebaut, Singkreise erfunden – man war erfinderisch.
Erste Kampfansage des Kardinals
Noch konnte niemand wissen, was dieser 7. Oktober 1938 für die Kirche in Österreich bedeuten würde. Bestenfalls ahnte man es. Denn schon am 11. September – in Kirchschlag in Niederösterreich – hatte sich der Eklat angekündigt. Dort rief Innitzer:
„Ich beschwöre euch als euer Bischof: Lasst nicht vom Glauben! [...] Wir geloben es uns heute, und ihr gelobt es euch, ein jeder selber in seinem Herzen: treu bleiben, zusammenhalten, nicht wanken und weichen, wenn noch schwere Zeiten kommen sollten. Man hat uns bereits die Klosterschulen genommen, hat uns schöne Worte gegeben, und am Schluss nichts gehalten [...] Wenn sie auch Misstrauen säen zwischen euch und euren Priestern und dem Bischof [...], wir sind hart auf hart! [...] Wir haben das Wort: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen!“
Eine atemberaubende Predigt für die damalige Situation. Längst hatte der Wiener Oberhirte, der von seiner sudetendeutschen Abkunft geprägt war, den größten Fehler seines Lebens bitter bereut: Im März 1938 hatte er namens der österreichischen Bischöfe den Usurpator Adolf Hitler mit „Heil Hitler“ willkommen geheißen. Die Nazis honorierten dies überhaupt nicht. Jetzt musste Innitzer handeln.
Ein brechend voller Dom
Der Abend des 7. Oktober bricht an – und es geschieht Erstaunliches: Mindestens 8.000 Jugendliche drängen in den Dom, wenn nicht gar 10.000. Und das, obwohl für viele am Freitagabend Pflichtdienst bei der Hitlerjugend und beim Bund Deutscher Mädchen angesetzt war. Man hätte bis 23. September um eine Genehmigung ansuchen müssen. Ringel: „Der Dom war wirklich so voll, dass keiner hätte umfallen können.“ Der Kardinal, absolut kein guter Redner, überlegt lange. Dann strebt er plötzlich mit großer Assistenz, in vollem Ornat, durch den Mittelgang zur Pilgram-Kanzel. „In diesem Augenblick“, so Erwin Ringel, „hat ihn der Heilige Geist geküsst.“
Nie da gewesene Kriegserklärung
Von der Predigt gibt es keinerlei Tonaufzeichnungen, die Rede wurde im Nachhinein von den Anwesenden rekonstruiert:
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, berichtet Müller-Hartburg. Und dann das:
Damit hat er, alle wissen es, die Grenze überschritten, die das Nazi-Regime noch toleriert hat. Es ist eine Kriegserklärung, wie es sie im Großdeutschen Reich nie zuvor gegeben hat – und auch nie mehr geben sollte. Die Andacht endet mit dem sakramentalen Segen, und der gotische Dom erdröhnt vom feierlichen Schlusslied aus tausenden Kehlen:
Vom Riesentor dringt ein schütterer Sprechchor in den Kirchenraum: „Sieg Heil, Sieg Heil...“ Etwa hundert Rufer haben sich bei der Goldschmiedgasse gesammelt. „Wir sind danach hinaus“, erzählte Erwin Ringel, „und der Stur, der neben mir gestanden ist, hat gesagt: ,Um Gottes willen, Ringel, du musst die aufhalten! Es gibt eine Katastrophe!‘ Der Stur, der kein feiger Mensch war, hat das Unheil geahnt. Aber wenn ich mich so hingestellt hätte, ich wäre zertrampelt worden. Also bin ich selbst mitgelaufen, und wir waren auf dem Platz draußen, und der Platz hat ganz und gar uns gehört. Die paar Nazis, die sich dorthin verirrt hatten oder zufällig dort waren – die wurden verdroschen, das muss ich auch bekennen.“
Geleit für Innitzer
Wie ein Lauffeuer wird die Parole ausgegeben: „Nicht provozieren lassen, ruhig bleiben!“ Dann plötzlich ein spontaner Chorgesang auf dem Platz: „Auf zum Schwure, Volk und Land, hebt zum Himmel Herz und Hand...“ Tausende junge Österreicher singen es mit erhobener Schwurhand. „Wir wollen unsern Bischof sehen“, wird immer wieder gerufen – in Anspielung auf die Nazis, die ständig ihren „Führer sehen“ wollten. So begleitet die Menschenmenge den Kardinal bis zum Haupttor des Palais. Die Rache der Hitlerjugend folgt prompt: schon am Abend des 8. Oktober. Die Meute sammelt sich vor dem Erzbischöflichen Palais, dringt in das Haus ein und verwüstet es in blinder Wut. Innitzers Sekretär, Jakob Weinbacher, versteckt die geistlichen Schwestern auf dem Dachboden und den Kardinal im Matrikelarchiv, isst hastig die geweihten Hostien in der Kapelle und versucht, sich den Wütenden entgegenzustellen. „Den Hund schmeißen wir beim Fenster außi!“, ruft einer, doch der Priester kann sich mit letzter Kraft wehren.
Polizeiaufgebot samt Gestapo
Nachdem sie alles zerdroschen und das Christusgemälde mit Messern traktiert haben, ziehen die Hitlerjungen auf dem Stephansplatz zum Churhaus weiter, wo der Domkurat Johannes Krawarik aus dem ersten Stock in den Innenhof geworfen wird und sich beide Oberschenkel bricht. Dann der Ruf: „Zurück, Polizei kommt!“ Vierzig Minuten sind vergangen. Der neue Wiener Polizeipräsident, Otto Steinhäusl, ein illegaler Nazi, sitzt mit der Uhr in der Hand im Café de l'Europe, wartet die festgesetzte Zeit ab, bis er dann den Befehl zum polizeilichen Eingreifen gibt. 1.200 Fensterscheiben sind kaputt, alle Kleider des Kardinals, das Bischofskreuz und zwei Ringe werden vermisst. Am nächsten Tag fotografiert die Gestapo die Verwüstung, versiegelt das Gebäude und lässt alle Augenzeugen unterschreiben, dass sie Schweigen bewahren werden. Unter Polizeischutz darf Innitzer am Sonntag hinüber in den Dom, um die Messe zu feiern. Demonstration auf dem Heldenplatz Doch das grausame Spiel geht weiter. Eine derartige Provokation durch die Kirche kann sich der Gauleiter Josef Bürckel nicht gefallen lassen. Der aus der Pfalz herbeigerufene „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich“ ruft zur Gegendemonstration auf dem Heldenplatz für den 13. Oktober 1938 auf. Der bronzene Feldherr Prinz Eugen hat Glück: Die schaurige Veranstaltung findet hinter seinem Rücken statt, sein Ross kehrt dem Redner das Hinterteil zu. Tosender Beifall, gellende Pfuirufe, als Bürckel Innitzer einen Verräter am „Führer“ und am deutschen Volk nennt. „Nieder mit dem Klerus!“, ruft der Pöbel, „Zum Teufel mit den Jesuiten“, „Ohne Juden, ohne Rom, wird erbauet Deutschlands Dom“ (ein Sinnspruch, den schon einst Ritter von Schönerer erfand).
Die skandierende Menge zieht weiter
Nach der Kundgebung zieht die aufgeputschte Masse zu Tausenden am Erzbischöflichen Palais vorüber. Die Schmähungen verletzen Innitzer zutiefst, der in einem Zimmer mit seiner Sekretärin ausharrt: „Innitzer, krepier! Innitzer an den Galgen!“ Am liebsten wären sie noch einmal in den Palast eingedrungen. Dann ziehen sie grölend weiter durch die Rotenturmstraße, in ihrer Mitte eine am Galgen baumelnde Puppe des Kardinals. Erst die Pogromnacht 1938 sollte dieses Schauspiel übertreffen. Der 9. November sollte bald kommen.
Beistand vonseiten der Kirche
Für den oft gescholtenen Kardinal waren die dramatischen Ereignisse des Oktober 1938 eine Ehrenrettung, so bitter sie auch waren. Was in Wien vor sich ging, beschäftigte die Weltöffentlichkeit. 130 US-Bischöfe sandten ein Sympathietelegramm nach Wien; der Breslauer Kardinal Bertram protestierte beim Berliner Reichskirchenminister Kerrl; der Berliner Bischof Graf Preysing tröstete den Wiener Amtsbruder; die katholischen „Neuen Zürcher Nachrichten“ schrieben von einem „geistigen Tiefstand“. Der unpolitische Kardinal selbst aber sollte in den folgenden Jahren zum engagierten Judenretter werden.
Quelle: „Die Presse“, Print-Ausgabe, 05.10.2013; Online unter Rosenkranzfest 1938: Sternstunde des Widerstands